Rezension: Der Vorleser von Bernhard Schlink

"Der Vorleser" von Bernhard Schlink erzählt die Geschichte von der 36-jährigen KZ-Schergin Hanna Schmitz, die sich auf eine sexuelle Beziehung mit dem 15-jährigen Michael Berg einlässt. Hanna führt den Jungen in die Welt der Liebe ein, während dieser ihr als Gegenleistung vorliest. Dies ist die Ausgangslage zu einem der bekanntesten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur, welches 2008 unter dem Titel "The Reader" verfilmt wurde. 

Meiner Meinung nach hat es Berhard Schlink mit diesem Werk geschafft, das Thema des Nationalsozialismus in Deutschland und die dazugehörige Vergangenheitsbewältigung von einem völlig anderen Gesichtspunkt aus zu beleuchten. Die Idee, eine KZ-Schergin für den jungen Michael Berg als die begehrenswerteste Frau darzustellen, ist revolutionär. Dennoch zeigt dieses Werk etwas ganz deutlich: Die Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit dauert sehr lange, ist äusserst schmerzhaft und qualvoll.

Eine Beziehung, die das Leben prägt
Dies demonstriert Bernhard Schlink an der Person von Michael Berg eindrücklich. Dieser schafft es nach seiner Beziehung mit Hanna nie mehr, eine normale Beziehung einzugehen. Er vergleicht alle Frauen mit Hanna, doch keine kann ihr das Wasser reichen. Er war auch bereit, für Hanna und damit für die Aufrechterhaltung ihrer Beziehung, in jedem Streit die Schuld auf sich zu nehmen. Über weite Strecken seines Lebens ist Michael danach nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen. Er vergräbt sich in Arbeit, versucht zu vergessen und zu verdrängen, doch die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Erst am Ende, nach fast 30 Jahren gelingt es ihm, seine traumatische Beziehung mit Hanna zu überwinden, in dem er wieder begann, ihr vorzulesen, wenn auch nur auf Tonband. Durch diesen Akt, der dem Werk seinen Namen gab, schafft es Michael, sich aus den Fängen von Hanna und damit im übertragenen Sinne auch aus den Fängen des Nationalsozialismus zu befreien. Seine Leidensgeschichte steht sinnbildlich für den schwierigen und langwierigen Prozess der Vergangenheitsbewältigung, den die deutsche Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg durchlaufen musste. 


Die Frage nach der Schuld
Während der Lektüre des Werks, stellt man sich immer wieder dieselbe Frage. Weshalb läuft Hanna immer davon und weshalb nimmt sie die ganze Schuld auf sich? Ist sie zu stolz? Hat sie Angst? Auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu finden, ist nicht möglich und dennoch glaube ich, dass genau in dieser offenen Frage der Reiz der Lektüre steckt. Ich denke, dass Hanna nicht zu ihrem Analphabetismus stehen konnte, weil sie ihn mit Unmündigkeit gleichsetzte. Wenn sie sich selber als unmündig einstufen würde, dann würde sie ihre Selbstachtung verlieren, was sie um jeden Preis verhindern wollte. Erst im Gefängnis, als sie die Kassetten von Michael erhält, wandelt sich ihr bis anhin starrer Charakter und sie durchläuft zum ersten Mal eine grundlegende Veränderung. Sie läuft nicht mehr davon und beginnt, sich selber lesen und schreiben beizubringen. Die Tatsache, dass sie sich danach sehr intensiv mit der KZ-Literatur befasste, zeigt, dass sie sich aus ihrer Unmündigkeit befreit hat und nun Verantwortung für ihre Taten übernimmt - was wahrscheinlich dazu führte, dass sie sich das Leben nahm.

Wie soll man Hanna bestrafen?
Doch nicht nur bei Hanna stellt sich die Schuldfrage, auch bei Michael. Er gibt sich lange Zeit die Schuld an der Trennung, da er Hanna gegen Ende ihrer Beziehung immer mehr vernachlässigt, ja sogar verleugnet hat. Über diese Schuld kommt er sehr lange nicht hinweg. 
Als er dann während seines Studiums Hannas Prozess mitverfolgt, stellt sich erneut die Frage der Schuld. Nicht nur, ob Hanna schuldig ist, sondern auch nach welchem Gesetz die Angeklagten bestraft werden sollen. Damals, als Hanna und die anderen ihre Straftat begingen, waren es noch keine Straftaten. Darf man also im Nachhinein jemanden für etwas schuldig sprechen, das damals noch gar nicht strafbar war? Durch das Aufwerfen dieser Frage schafft es Schlink eindrücklich, die Komplexität  der Schuldfrage im Bezug auf den Nationalsozialismus aufzuzeigen.  
Auch nach Hannas Verurteilung macht sich Michael noch immer Vorwürfe. Hätte er dem Gericht von Hannas Analphabetismus erzählen sollen? Hätte sie das gewollt? Man sieht also, dass Michaels gesamtes Leben, seit er 15 Jahre alt war, seit er Hanna kennen gelernt hatte, immer von der Schuld und der Suche nach dem Schuldigen geprägt war. 

Eine subtile aber starke Anklage
Ich finde, Schlink ist es mit diesem Werk nicht nur gelungen, die Problematik der Vergangenheitsbewältigung und der Schuldfrage im Bezug auf den Nationalsozialismus aufzuzeigen, sondern er schafft es auch, die Brutalität der damaligen Zeit zu verdeutlichen. Dazu muss er sich nicht der Beschreibungen der Zerstörung und des Todes bemächtigen, wie dies sonst in der Nachkriegsliteratur üblich war, sondern er schafft dies auf eine viel subtilere, aber nicht minder starke Art und Weise. Die Tatsache, dass man die schrecklichen Taten der Nazis am Beispiel von Hanna, mit der man sich zuvor identifizieren konnte, aufgezeigt bekommt, macht die Anprangerung und die Kritik am Nazitum noch stärker und wirft ein anders, ein persönlicheres Licht auf die gesamte Thematik. Aus diesem Grund halte ich "Der Vorleser" für ein äusserst gelungenes und empfehlenswertes Buch, welches sich, trotz des nicht ganz leicht zu verdauenden Inhalts, gut und flüssig liest. 
(fba)


Bibliografische Angaben:

Titel: Der Vorleser 

Autor: Bernhard Schlink
Seiten: 206 
Erschienen: 1995
Verlag: Diogenes 
ISBN-10: 3257229534 
ISBN-13: 978-3257229530
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