Rezension: Die Stadt der Blinden von José Saramago


"Die Stadt der Blinden" von José Saramago ist ein faszinierendes und abschreckendes Werk zu gleich. Es zeigt, wie die menschlichen Rechte und Würden in einer Katastrophensituation auseinander fallen und wie nahe wir Menschen in einem solchen Fall dem Tier kommen. 

In einer unbekannten Stadt erblindet an einer Kreuzung ohne erkennbaren Grund ein namenloser Autofahrer. Kurze Zeit später erblinden weitere Menschen. Die Regierung ist mit der Situation überfordert, da niemand den Grund für die plötzlichen Erblindungen kennt. Es wird entschieden, die Blinden und diejenigen, die mit erblindeten Personen in Kontakt standen, in eine ehemalige Irrenanstalt ausserhalb der Stadt zu verfrachten und sie dort wegzusperren. Das Gebäude wird von Soldaten bewacht, die den Befehl haben, zu schiessen, sobald die Insassen ihr Territorium verlassen. 
Bereits nach wenigen Tagen ist die Unterkunft völlig überfüllt, die Hygiene lässt zu wünschen übrig und die Lebensbedingungen sinken mit jeder Stunde. Doch das Ganze wird noch schlimmer, als eine Gruppe von Blinden mit Gewalt die Macht an sich reisst und die Ausgabe des Essens kontrolliert. Die einzige Hoffnung für die Blinden ist die Frau eines erblindeten Augenarztes, die freiwillig in die Irrenanstalt ging, jedoch als einzige noch immer sehen kann.

Gewöhnungsbedürftiger Stil
Saramagos Text zu lesen, ist nicht ganz einfach. Die Satzzeichen werden sehr spärlich gebraucht, Anführungs- und Schlusszeichen werden gar nie verwendet. Auch Absätze sind nur wenige zu finden. Man braucht einige Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat, vor allem ist es zu Beginn schwierig zu erkennen, wann eine Person spricht und wann nicht. Weshalb sich Saramago dieser Art des Schreibens bedient? Meine Idee ist, dass es uns beim Lesen ähnlich ergeht, wie den Blinden in der Irrenanstalt. Sie können nicht sehen, also müssen sie sich langsam vorwärts tasten, vielleicht mehrmals dieselbe Stelle passieren. Genauso müssen wir als Leser den Text aufmerksam lesen, uns voran tasten und gewisse Sätze zwei oder drei Mal lesen, um sie zu verstehen. Eine zweite Idee wäre, dass durch die wenigen Absätze und Unterbrechungen durch andere Satzzeichen der Text wie eine grosse Fläche daher kommt, eine Fläche, wie die grosse, weisse Fläche, welche die Blinden sehen.


Humor macht das Lesen erträglicher
Die Erzählung von Saramago, der 1998 den Literatur Nobelpreis gewann, zeichnet sich besonders durch ihre Intensität und Nähe an der Realität aus. Es ist beindruckend und gleichzeitig auch erschreckend, wie Saramago das Katastrophensezenario der Massenblindheit bis ins kleinste Detail beschreiben kann. Die Auswirkungen, die die Blindheit auf den einzelnen Menschen, aber auch auf die Gruppe und deren Dynamik hat, werden sehr detailliert und treffend beschrieben. Saramago schreibt, wie die Menschen ihre Hoffnung, ihre Würde und jegliche Ansprüche auf Rechte verlieren, wie sie langsam rücksichtslos werden, in der Art und Weise ihres Verhaltens dem Tier sehr nahe kommen. Beispiele dafür sind unter anderem die Gruppe von Blinden, die in der Irrenanstalt mit Gewalt die Essensverteilung kontrolliert, oder die alte Frau, die sich von toten Tieren und Pflanzen ernährt.
Die Erzählung von Saramago ist schockierend und teilweise nur sehr schwer zu ertragen (Massenvergewaltigung, Hygiene ect). Dennoch ist die Geschichte faszinierend, weil sie, obwohl nie erklärt wird, warum die Blindheit kommt, warum die Frau das Augenarztes als einzige sehen kann und weshalb am Ende alle ihr Augenlicht wieder erlagen, sehr realistisch ist. Um die teils brutalen und teils unappetitlichen Szenen erträglicher zu machen, streut Saramago immer wieder humoristische Elemente ein. Ab und zu sind es Wortspiele, die das Wort "sehen" beinhalten, mal ist es schwarzer Humor, mit dem sich die Blinden über ihre eigene Situation lustig machen, oder es sind Sprichwörter und Volksweisheiten.

Alles in allem hat mich das Werk von Saramago auf der ganzen Linie überzeugt, auch wenn es nicht immer ganz einfach war, die Geschichte zu lesen - wegen der Form und wegen dem Inhalt. Abschliessend bleibt anzumerken, dass in der ganzen Geschichte kein einziger Namen fällt. Weder die Menschen, noch die Tiere, noch die Stadt oder das Land werden beim Namen genannt. Dies dürfte den Zweck haben, dass Saramago einerseits eine Geschichte erzählen wollte, die überall hätte passieren können und die alle getroffen hat, und anderseits bringt dies den Leser auch wieder näher an die Situation der Blinden heran, die ihr gegenüber nicht kennen und nicht sehen können.
(fba)

Bibliografische Angaben:

Titel: Die Stadt der Blinden
Autor: José Saramago
Seiten: 400
Erschienen: 1995
Verlag: rororo
ISBN-10: 3499224674
ISBN-13: 978-3499224676
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